Ursula Deschka: "Die Märkte hier sind in ständiger Bewegung"
Seit Jahresbeginn 2023 ist Ursula Deschka Chefin der Ergo Baltics. Sie habe schnell gemerkt, dass in den baltischen Staaten die Uhren etwas anders ticken als in Deutschland. Im Interview mit VWheute sprach die "Auswanderin" über ihren Amtsantritt und neue Perspektiven.
VWheute: Sie haben Anfang des Jahres die Position des Ergo-CEO für das Baltikum übernommen. Welche Beweggründe waren für Sie ausschlaggebend, den neuen Posten anzutreten und wie sieht Ihre erste Bilanz nach 100 Tagen aus?
Ursula Deschka: Wie so oft gab es den einen Grund dafür nicht. Vielmehr war es das Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Zunächst waren da meine persönliche Ambition und mein Wille, mich kontinuierlich weiterzuentwickeln und mehr Verantwortung zu übernehmen. Nach über 20 Jahren in der Versicherungsbranche kenne ich das Geschäft aus ganz unterschiedlichen Perspektiven - Vertrieb, Produktentwicklung, Digitalisierung, Kundenservice. Die perfekte Basis also für diesen Schritt. Zum anderen waren da natürlich auch Neugierde und Motivation, nach 20 Jahren in Deutschland etwas anderes zu sehen, meinen Blick zu erweitern, neue Erfahrungen zu sammeln. Als dann die Möglichkeit im Baltikum aufkam, habe ich nicht lange überlegen müssen: eine Gesellschaft, die in drei Ländern tätig ist und in allen drei Märkten zu den Top-Drei-Versicherungen zählt - das war genau mein Ding!
Glücklicherweise hat sich meine erste Einschätzung auch in der Praxis bewahrheitet: Die baltischen Staaten zeigen viele neue Perspektiven auf. Und gleichzeitig haben die Märkte dieser kleinen Länder (1,3 Millionen Einwohner in Estland, 1,8 Millionen in Lettland und 2,9 Millionen in Litauen) definitiv noch Potenzial, das es zu heben gilt. Im Baltikum ist es durchaus üblich, im Geschäftsleben Englisch zu sprechen. Das macht es einfacher für mich, mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über alle drei Länder hinweg ins Gespräch zu kommen und gemeinsam am erfolgreichen Ausbau unseres Versicherungsgeschäfts zu arbeiten. Meine drei Vorstandskollegen und ich haben vier verschiedene Muttersprachen und sind in vier verschiedenen Ländern aufgewachsen - Estland, Litauen, Polen und Österreich. Diese Vielfalt macht uns stark!
"Der Ukraine-Konflikt, der mich und uns alle unverändert erschüttert, ist in der hiesigen Region im täglichen Leben spürbar."
Ursula Deschka, Vorstandsvorsitzende der Ergo im Baltikum
VWheute: Welche strategischen Ziele verfolgen Sie für 2023 sowie für die nächsten drei bis fünf Jahre? Wie wichtig ist der baltische Versicherungsmarkt für die Ergo und welche Rolle spielt derzeit der Konflikt in der Ukraine für das Versicherungsgeschäft in den baltischen Republiken?
Ursula Deschka: Ergo hat in den baltischen Staaten einen hervorragenden Ruf. In Estland etwa sind wir die bekannteste Versicherungsmarke. Unsere Net Promotor Score (NPS)-Werte, die Kundenzufriedenheit, -loyalität und -bindung messen, sind exzellent. Darauf können wir sehr gut aufbauen und uns weiterentwickeln. Denn die Märkte hier sind in ständiger Bewegung, die Konkurrenz schläft nicht.
Estland, Lettland und Litauen sind allesamt in puncto Digitalisierung sehr fortgeschritten. Diese Digitalisierung ist allerdings in der baltischen Versicherungsbranche bislang noch nicht so ausgeprägt. Mein Ziel ist es, die positive Grundeinstellung und Affinität der Menschen zur Digitalisierung zukünftig stärker einzubeziehen und als Treiber für Innovation und Wachstum zu nutzen. Als Ergo haben wir den großen Vorteil, dass wir in allen drei Ländern annähernd gleichermaßen stark aufgestellt sind. Dadurch können wir - trotz unterschiedlicher Gesetzgebungen, Sprachen und Kulturen - länderübergreifende Synergien erzielen. Daran werden wir in den nächsten Jahren sehr konsequent arbeiten. Erste Maßnahmen haben wir im Vorstand bereits eingeleitet. Perspektivisch wird die Ergo im Baltikum so noch stärker zur Diversifizierung und nachhaltigen Stabilität der Ergebnisse der Gruppe beitragen.
Der Ukraine-Konflikt, der mich und uns alle unverändert erschüttert, ist in der hiesigen Region im täglichen Leben spürbar. Man darf nicht vergessen, dass die baltischen Staaten selbst erst vor etwa drei Jahrzehnten ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erlangt haben. Neben unterschiedlichen ökonomischen Verwerfungen, die wir auch in anderen Ländern beobachten, spielt für das Versicherungsgeschäft im Baltikum vorrangig die durch den Krieg angeheizte enorme Inflation von bis zu 25 Prozent in 2022 und aktuell über 15 Prozent eine maßgebliche Rolle.
Ergo-Managerin Ursula Deschka im Kurzporträt |
Ursula Deschka ist einer der wenigen weiblichen Vorstände mit Vertriebserfahrung. Steil bergauf ging es mit ihrer Karriere, dabei hat sie bislang nur ein Mal den Insurance-Arbeitgeber gewechselt - von der Allianz zur Ergo. Sie studierte in Wien internationale Betriebswirtschaftslehre. Während dieser Zeit wurde sie auf ein Recruting-Event der Allianz in der Berlin aufmerksam. Im Alter von 22 Jahren startete sie als Trainee beim Münchener Versicherungskonzern und stieg bis zur Direktorin für das Spezialisten- und Produktmanagement auf. "Von allen Stationen hat mir damals der Außendienst am besten gefallen. Ich bin ein neugieriger und kommunikativer Mensch und fand es dort sehr abwechslungsreich." Im November 2017 wechselte sie zur Konkurrenz in Düsseldorf und wurde Vorständin von mehreren Konzerneinheiten, darunter Ergo Direkt Lebensversicherung, Ergo Direkt Krankenversicherung und Ergo Direkt Versicherung. Im Januar 2020 übernahm sie außerdem das Vorstandsressort Gesundheit Inland der Ergo Deutschland AG, war Vorsitzende des Vorstands der Ergo Krankenversicherung AG und Vorstandsmitglied in der DKV Deutsche Krankenversicherung AG. Ihre Nachfolge als Chefin der Ergo Kranken hat Frauke Fiegl übernommen. |
VWheute: Was unterscheidet die baltischen Versicherer von den deutschen Unternehmen? Und was können die deutschen Gesellschaften von den baltischen Gesellschaften lernen?
Ursula Deschka: Zunächst ist festzuhalten: Die "baltischen" Versicherer kommen fast ausschließlich aus dem Ausland - aus Österreich, Polen, Schweden, Norwegen und Deutschland. Ungeachtet dessen lerne ich hier jeden Tag Neues dazu.
Meine bisherigen Highlights:
- Der hohe Grad der Digitalisierung in der täglichen Arbeit. Beispielsweise gibt es in unserem Headquarter in Estland gerade mal einen einzigen Drucker für 200 Mitarbeitende - und alles funktioniert hier reibungslos. Auch das Thema hybrides Arbeiten fühlt sich hier natürlicher an als in Deutschland. So bieten sogar vermehrt Schulen in Estland den Kindern die Möglichkeit zur "workation", das heißt, den Unterricht für eine gewisse Zeit aus dem Ausland digital zu besuchen. Gleichzeitig ist die Digitalisierung auch bei den Kundinnen und Kunden spürbar - und deren Erwartungshaltung entsprechend. Jeder Kunde kann ganz einfach online auf seine Verträge zugreifen - ohne komplizierte Registrierung in einem Kundenportal. Die digitale Infrastruktur bietet hier ausreichend Möglichkeiten, Personen einwandfrei zu identifizieren. Die "digitale ID" ist hier ganz normal.
- Diversität und Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In meinem Top-Management sind etwa zwei Drittel Frauen. Viele davon haben mehrere Kinder. Solche Karrieren sind in Deutschland leider noch sehr selten. Und was außerdem spannend ist: Der Vertrieb hier ist von Frauen geprägt. In den baltischen Staaten sind vor allem Frauen als Maklerinnen und Vertreterinnen tätig. Für mich eine ganz neue Erfahrung! Ich würde mir auch in Deutschland mehr Frauen im Versicherungsvertrieb wünschen und unterstütze die zahlreichen Maßnahmen, die die Versicherungsunternehmen – selbstverständlich auch Ergo - hierfür unternehmen.
- Der hohe Fokus auf Mitarbeiterzufriedenheit und Identifikation mit dem Arbeitgeber. Ganz generell betrachtet ist die Reputation der Versicherungsbranche aus Sicht potenzieller künftiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hierzulande besser als in Deutschland. Das hilft uns, denn im Baltikum gibt es, genauso wie in Deutschland, einen steigenden Mangel an Fachkräften. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass aufgrund der arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer teilweise binnen nur zehn Arbeitstagen ihren Arbeitgeber wechseln können, wird ein hoher Wert auf Mitarbeiterzufriedenheit gelegt. In diesem Zusammenhang bin ich sehr glücklich, dass im Rahmen der jährlichen Mitarbeiterbefragung zuletzt 95 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angegeben haben, dass sie fest an die Ziele unseres Unternehmens glauben und stolz darauf sind, bei Ergo zu arbeiten.
VWheute: Worin unterscheiden sich zudem die baltischen Versicherungskunden von den deutschen Verbrauchern? Bedeutet die neue Aufgabe in dieser Hinsicht eine große Veränderung für Sie?
Ursula Deschka: Hier sehe ich noch Potenzial. Der Versicherungsmarkt im Baltikum ist stark auf das Kfz-Geschäft ausgerichtet, vor allem im Privatkundengeschäft. Gerade Privatpersonen haben häufig nur eine Kfz-Haftpflichtversicherung - und darüber hinaus keinen weiteren Versicherungsvertrag. Das private Krankenzusatzgeschäft gibt es hier de facto nicht, auch das Lebensversicherungsgeschäft ist bei Weitem nicht so ausgeprägt wie in Deutschland. Der Grad der Versicherungsdurchdringung liegt bei ein bis zwei Prozent, je nach Land. Das bedeutet also, dass noch viele Chancen vor uns liegen.
Dazu müssen wir aber auch den Menschen im Baltikum den Grundgedanken und die Vorzüge einer individuellen, privaten Absicherung noch besser vermitteln - ganz konkret das Verteilen eines Risikos auf eine Versichertengemeinschaft. Wir müssen das Thema in der Gesellschaft stärker verankern und die gesellschaftliche Relevanz der Versicherungsbranche klarer herausstellen. Das geht sicherlich auch mit einem gewissen kulturellen Wandel einher. Dahin kommen wir - Schritt für Schritt - durch Sensibilisierung, Aufklärung, den direkten, kontinuierlichen Austausch und Nähe zu den Menschen.
"Estland lebt seit 20 Jahren eine konsequente Digitalisierung."
Ursula Deschka, CEO der Ergo im Baltikum
VWheute: Vor allem Estland zählt zu den fortschrittlichsten Ländern beim Thema Digitalisierung: Was machen die Esten besser als die Deutschen und was können deutsche Versicherer von den estnischen Versicherer beim digitalen Vertrieb noch lernen?
Ursula Deschka: Estland lebt seit 20 Jahren eine konsequente Digitalisierung. Bei der diesjährigen estnischen Parlamentswahl wurden online mehr Stimmen abgegeben als persönlich in der Wahlkabine. Seit 20 Jahren gibt es hier einen elektronischen Personalausweis, seit zehn Jahren können auch Nicht-Esten eine digitale ID in Estland erhalten. 99,9 Prozent aller staatlichen Dienstleistungen sind online. Gleichzeitig erkennt man im System, wann welche Behörde auf die eigenen Daten zugreift. Das verbessert den Schutz der Daten deutlich.
Auch das Gesundheitssystem ist vollständig digitalisiert: Seit gut zehn Jahren sind E-Rezept und elektronische Patientenakten gesetzlich verpflichtend. Mit der persönlichen digitalen ID ist der Zugriff auf die eigenen Versicherungsverträge ebenfalls jederzeit unkompliziert möglich. Die Kunden pflegen daher ihre Daten in den meisten Fällen selbst. Wir haben im Non-Life-Geschäft daher keine "Vertragsabteilung", wie wir sie aus Deutschland kennen.
Im Vertrieb wird in Estland stark auf Vergleichsportale gesetzt. Nicht immer muss man als Versicherer dafür bezahlen. So gibt es etwa für die Kfz-Haftpflichtversicherung ein offizielles und häufig genutztes Portal der Zulassungsstelle, auf dem Kunden Preise vergleichen können und dann direkt zur Abschlussstrecke des gewählten Versicherers geleitet werden. Ganz generell sind für Versicherer viele Daten anonymisiert verfügbar, das hilft natürlich bei der Risikokalkulation und der Weiterentwicklung der Produkte.
VWheute: Welche Erfahrungen im baltischen Versicherungsmarkt können Sie in das Ergo-Geschäft einbringen - insbesondere mit Blick auf den digitalen Fortschritt? Und welche strategischen Ziele verfolgt die Ergo in den baltischen Märkten?
Ursula Deschka: Zusammenfassend lässt sich sagen: Ergo profitiert als internationaler Konzern klar vom länderübergreifenden Austausch. In meinem persönlichen Fall kommt noch dazu, dass ich auch die Kolleginnen und Kollegen in Deutschland schon lange kenne. Das erleichtert den schnellen, punktgenauen und konkreten Austausch für Best Practice - und zwar beidseitig.
Zur Strategie im Baltikum: Wie schon gesagt, wir sind aktuell in allen drei baltischen Staaten als Vollsortimenter vertreten und gehören in allen Geschäftsfeldern zu den Marktführern. Diese Position wollen und werden wir auch weiter stärken und ausbauen. Wir haben als Ergo eine sehr gute Reputation am Markt, setzen stark auf Kundenzufriedenheit, sind begeisterte Vorreiter beim Thema Nachhaltigkeit und haben ein erfolgreiches Employer Branding. Das ist die richtige Basis für zukünftigen, nachhaltigen Erfolg!
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